Die Farben der Ruhe

Hier war es still in diesem Herbst. Vielleicht, weil es in dieser Jahreszeit so überwältigend viele Farben und Wunder und Veränderungen gibt. Weil ich mit Entdecken und Staunen und Schauen so beschäftigt bin, dass kaum Zeit für anderes bleibt. Oder weil in meinem Leben viel geschehen ist. Vielleicht auch, weil die Bilder, die in ihrem herbstlichen Farbenfeuer so groß sind, Worte überflüssig machen. Bilder sind den Worten oft überlegen mit ihrer inhaltlichen Fülle. Und manchmal bin ich der Worte müde und mag mich einfach fallenlassen in das Schweigen und die tiefe Ruhe.

Die Natur macht uns das jetzt vor. Die Zeit der Ruhe ist ein Geschenk. Erholen, Ruhen, Kraft sammeln, neue Wurzeln treiben, langsam und tastend, mit Vorfreude aber ohne Ungeduld. Die nun gedämpfteren Farben betrachten, denn sie sind ebenso schön, nur zarter. Den Aromen nachschmecken, den Gerüchen nach Erde und Frost. Atmen. Schlafen. In neuen Gedanken stöbern wie in alten Briefen. Die Adessen von Freunden wiederfinden und ihnen eine Weihnachtskarte schicken, eine zum Anfassen. Plätzchen backen und Kerzen anzünden und daran denken, dass es kaum noch dauert, bis die Tage bereits wieder länger werden. Mit sich selbst nachsichtig sein. Es ist eine kostbare, so kurze Zeit, diese neblige, stille, langsame, kühle, pastellfarbene, die uns erlaubt, einfach mal stehenzubleiben, nach innen zu sehen und den letzten fliegenden Blättern hinterher, und auch schon die ersten Triebe der Krokusse und Schneeglöckhen zu finden, die bereits nachsehen, ob der Himmel noch da ist. Ist er. Für uns alle, auch in diesen Tagen, auch in diesen Zeiten. Ich wünsche eine besinnliche, behutsame, beglückende Vorweihnachtszeit.

Fühlern

Nein, das ist kein Rechtschreibfehler. Dieser Tage sehe ich die Bienen und so viele andere, teils noch ein wenig verschlafene Insekten in Lucys Garten und überall drumherum. Ich genieße ihre hoffnungsfrohe Gesellschaft und ich sehe, wie sie ihre beneidenswert beweglichen langen Fühler in diese zarte, farbendurchtränkte Welt strecken, so weit in alle Richtungen, begierig nach Licht und Aromen und ihren jeweils eigenen Frühlingsplänen. Mir ist genauso zumute, und auch wenn unsere Fühler anders aussehen, wir besitzen sie auch! Also: Schuhe aus, und das erste Mal barfuß durch den Garten in diesem Jahr. Und dann fühle(r)n.

Das Fühlern ist so neu wie damals in der Kindheit, jedes Jahr wieder, auch nach sechundfünzig Jahren. Das junge Gras. Sonnenwarmes Holz, schattenkühles Holz. Kies und Steine. Kleine Äste. Moos und Klee. Trockener Sand und feuchte, fruchtbare Erde, deren Duft aufsteigt, wenn man sie berührt. Eine Fülle von Wahrnehmung unter den nackten Solen, die noch so empfindlich sind jetzt nach dem langen Winter. Doch diese Empfindsamkeit macht hellwach, und der Hautkontakt zum Boden, zu unserem Planeten, beglückt ganz unmittelbar. Abends werde ich irgendwann versuchen, die Erdspuren abzuwaschen und es wird ein Rest bleiben, der sich nicht entfernen lässt, weil unsere Haut und die der Erde einander doch so nahe und ähnlich sind, wenn man es nur nicht vergißt und auf dem Boden der Tatsachen bleibt. Diese Tatsachen sind doch im Grunde so einfach und so groß und so mehr als ausreichend. Das sehe ich im Gesicht jeder sich öffnenden Blüte.

Die pure Lebensenergie fließt von der Wiese, die gerade zu grünen beginnt, durch die Fußsohlen in mich hinein. Das ist so viel mehr als irgendein Fitnesstraining oder Entertainment. Das fühlt sich ganz und vollkommen und sowas von richtig an und ich finde, Barfußgehen im Frühling müsste ganz oben auf die Liste der schönsten Lebensereignisse. Dass wir fühlen können, ist ein Geschenk, aber das hier, in diesem Moment, an einem solchen Tag – da ist es eben mehr als Fühlen, da ist es Fühlern, dann können wir alle Sinne so weit und beweglich strecken wie die Insekten.

Dazu vielleicht noch das erste Eis am Stiel. Und wenn man diese ganze Glückseligkeit dann auch noch mit einem lieben Menschen teilen darf, der das Fühlern nicht nur versteht sondern ähnlich empfindet, dann ist es ohne Worte, dann ist es nur noch wie ein perfekt gelungenes Bild, voller zauberhafter Farben, Vogelmusik, Gerüchen und Geschmack und alten und neuen Erinnerungen, zeitlos und unzerstörbar.

Fühlern, das geht immer, auch in schweren Zeiten, sofern es nur die Gesundheit zulässt. Also, raus ins Grüne, und Schuhe aus, Leute!

Und frohe, gesunde und zuversichtliche Ostern! Es ist ein Fest der Erneuerung und Hoffnung für alle, egal welchen Glaubens oder ob ohne Glauben. Die Natur macht es uns vor. Und es gilt auch in diesem Jahr. Darum zünde ich euch noch eine Osterkerze an.

August

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Das Leuchten ist jetzt anders, auf der anderen Seite der Sonnenwende. So warm und klar. Es unterstreicht den Zauber der Dinge. Nicht nur den der Blüten. Auch den der Treffen mit guten Freunden.

Eine eigene Ernte, ein filigraner Strauß, ein Lachen, eine Begegnung, ein Brief – alles ist kostbar in diesen heißen, leuchtenden, langsamen Sommertagen. Der August hält das Licht in seinen Handflächen, schreibt die Dichterin Victoria Eriksson.

Morgens zittern die Tropfen in den glänzenden Spinnweben wie vor freudiger Erwartung. Ein neuer Tag, in dem wir auf Entdeckungsreisen gehen können, im Garten, in Gesprächen im Schatten eines alten Baumes, zwischen den Seiten eines Buches mit dem Duft von Klee und dem Summen von Bienen um uns herum.

Die Hundstage bringen Blüten an Pflanzen hervor, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie gepflanzt habe. Alles ist leichter und doch zu groß für viele Worte. Das Glück liegt in der Stille.

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Die Wiese wächst nach der Mahd ein zweites unbeirrtes Mal. Früchte reifen zusammen mit den neuen Erinnerungen, die wir gerade erschaffen. Pfirsiche, Tomaten, Auberginen, Gurken. Das Wasser der Seen ist gerade noch erfrischend, trägt uns unter dem Himmel, der abends rosa Wolken treiben lässt wie Papierschiffchen.

Die Sommerabende kommen bereits ein wenig früher, aber sie sind voller Süße und Sanftheit, sie versöhnen mit der Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit der Zeit.

Sie haben uns für eine Weile sogar einen Kometen geschenkt. Doch die Sterne sind genug. Und manchmal sieht man sie sogar über der Stadt.

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Zuhausewinkel

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Nach dem Schnitt der ausgerasteten Buchenhecke blieb ein Riesenhaufen Äste und Reisig. Zu schade, um es wegzufahren – außerdem habe ich kein Auto. Und was in Lucys Garten wächst, gehört ja auch dahin. Die Lösung war meine Version einer Benjeshecke. Sie hilft etwas gegen Abgase und Lärm vom dahinterliegenden Parkplatz und sieht gemütlich aus. Vor allem aber:  Rotkehlchen und Zaunkönig haben sie sofort zu ihrem Zuhause erklärt. Aus dem, was Nachbarn für „Abfall“ hielten, ertönt nun die schönste Musik und verzaubert mich täglich. Manchmal trifft auch ein Blick aus einem blanken Auge den meinen.

Und auch Kröten, Molche, Igel, Wildbienen und Co. werden sich freuen.

So mag ich Recycling.

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Spot an

Es überrascht mich jedes Jahr wieder, was mir zeigt, wie schnell man es vergißt. Wenn die Sonne ganz tief steht, und auch davor und danach, wenn sie ganz langsam an wp-1577883665462.jpgHöhe verliert und dann wieder gewinnt, dann zaubert sie aus dem Hut, was gerade zur hellsten Jahresteit im Schatten lag. Auf einmal findet ein Lichtstrahl einen Weg unter ein Dach oder einen Baum und entdeckt eine Deko, die den ganzen Sommer unsichtbar an der Wand in einem Winkel hing. Und mit ihr einen lieben Gedanken oder eine Erinnerung, fast vergessen. Oder eine späte Blüte, vorher nie beachtet. Einen frühen Schmetterling, der gerade erwacht. Auf einmal glänzt etwas hell und unübersehbar an Stellen, die man immer wieder aus dem Blick verliert.

Die kurzen Tage sind gut zum Ausruhen, für Mensch und Natur. Aber sie eröffnen nebenbei ganz andere Räume. Sie fordern auch zum Hinsehen auf, zum Aufschließen, zum Begreifen.

Die dunkle Jahreszeit ist gar nicht dunkel. Sie wirft nur andere Schlaglichter.

Flugsterne

Wir neigen dazu, mit großer Ungeduld auf den Frühling zu warten. Doch heute begegnete mir auf einem Spaziergang eine leuchtende Wolke aus Federsternen. Samen, weich geborgen und in aller Ruhe wartend, bis die richtige Zeit gekommen ist. Bis ein warmer Wind wp-1579603969037.jpgsie an ihrem silbrigen Plüsch fortsegeln läßt an einen Ort, an dem sie gedeihen können. Und ich dachte mir: Genauso müssten wir es auch machen. Die Schönheit auskosten, die gerade das Wahre ist. Die Zeit der Ruhe genießen als das Geschenk, das sie ist und sein soll.  Darauf vertrauen, dass die Leichtigkeit und der Aufbruch genau dann kommen, wenn es an der Zeit ist.  Bis dahin ist es mehr als genug, den Glanz zu schauen.

 

Der bunte Anfang

wp-1579535094058.jpgEtwas am Blumenpflücken macht den Tag leicht, vor allem wenn es mitten im Winter ist. Es ist ein bißchen wie Barfußgehen im Kopf, wie bei Morgentau im taunassen Gras herumhüpfen oder im Regen lachen – es ist eines von den ganz einfachen Dingen, die unkompliziert glücklich machen. Und noch mehr, wenn sie auch noch zu einem unerwarteten Zeitpunkt kommen.

Der erste Blumenstrauß im Jahr trägt den ganzen Frühling und Sommer in sich. Er ist das Samenkorn, in dem die gesamte Freude am kommenden Wachsen gründet. Darum darf er auch ganz klein sein.

Er ist ein auch bißchen wie ein Brief vom Garten, eine Nachricht, dass dieser nun erwacht, in aller angemessenen Ruhe.

Ich pflücke nur die Blüten, die der Wind oder die Amsel geknickt hat oder die irgendwo unter schweren Zweigen erdrückt werden.

Der Rest bleibt unter dem Himmel, unter den er gehört. Sie sollen ja auch all den anderen Keimlingen Mut machen die sich, noch unsichtbar, unter der Erde hocharbeiten. Die in der Vase aber, die schenken ihn mir – den Mut.

In dunkler Tiefe

Unter der Stadt, wo die U-Bahn quietschend Menschenströme in ihren Tag und zurück trägt, da wächst nichts. Das Licht ist künstlich und kennt keine Zeiten. Nur an der Kleidung der Mitfahrer merkst du, ob Winter ist oder Sommer.  Du musst da durch und sehnst dich doch die ganze Zeit nach etwas anderem, nach Oben, nach Luft, nach Himmel, nach Grün, nach einem einzigen Blatt wenigstens.

wp-1578315199408.jpgUnd dann merkst, du, dass selbst hier jemand ein bißchen Garten untergebracht hat. Dass Stadtplaner, Architekten, Fliesenleger bei aller Arbeit und Sachlichkeit doch daran gedacht haben, was den Mensch ausmacht. Was er in der Tiefe braucht, um zu atmen und zu träumen. Sie haben selbst hier im ansonsten gnadenlosen Bauch der Stadt ein bißchen Garten geschaffen, manchmal sogar einen ganzen Wald. Jedenfalls die Erzählung davon, die Erinnerung, die Hoffnung. Manchmal genügt das, um die Seele durch den Tag zu bewegen, so wie es die Bahn mit dem Körper tut.

Dann weißt du, dass wir alle einen Garten in uns tragen, auch wenn er manchmal nur im Dunkeln liegt. Dann ahnst du, dass alle diese unterschiedlichen Menschen aus den vielen Ländern mit den vielen Sprachen die hier gemeinsam Bahn fahren und das manchmal schwierig finden, doch etwas gemeinsam haben, etwas Uraltes, Großes, Einfaches. Etwas ohne Worte.

Etwas Grünes, Zuversichtliches.

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Fenster zum Sommer

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Lucys Großnichte hat einen Dörrofen. Und wenn man eine der Orangenscheiben aus dem Dörrofen an einem kalten,  regnerischen Winterabend vor ein Licht hält, dann kann diese es locker mit einem Kirchenfenster aufnehmen. Mindestens so andächtig stimmt der Anblick, der da unversehens den ganzen Sommer lebendig macht. Denn diese zarte Scheibe enthält nicht nur die Farben von Sonnenuntergang über dem Meer und Sonnenaufgang über dem Garten. Sie erzählen auch vom Duft der Kischblüten und davon, wie Mangoeis schmeckt. Von der Weichheit von Rosenblüten, wenn man sie mit dem Finger berührt. Von Ringelblumen, Dahlien und Kapuzinerkresse und allen anderen Blüten, die Woche für Woche in allen Tönen von Gelb über Orange bis Weinrot in den Beeten glühen und unweigerlich auch grauen Tage und grauen Gedanken einen hellen, fröhlicheren Anstrich geben.  Und zuletzt auch vom  gradiosen Rausch des Herbstes in eben diesen Farben. All das muss während des Reifeprozesses in die Orange geraten und dort bewahrt worden sein, bis Sarahs Ofen und eine Kerzenflamme es wieder geweckt hat.