Der unendliche Adventskalender

Ende November erhielt ich von einer lieben Freundin ein Päckchen mit einem zauberhaften Adventskalender. In vierundzwanzig liebevoll gestalteten Tüten verbargen sich Samentüten. Samen für Blumen, die alte Freunde sind und Samen für Sorten, von denen ich noch nie gehört habe. Während die Tage immer kürzer wurden öffnete ich jeden Morgen voller Spannung neue Frühlingsvorfreude.

Kurz vor Weihnachten überraschte mich eine hoffnungsfrohe Narzisse mit weit geöffneten Blüten, mitten im Garten, mitten im Wintergrau. Sie sagte, alles sei möglich und versprach, dass all diese winzigen Samen ganz genau wissen, wie sie eines Tages genauso groß werden können. Sie tragen alle nötigen Informationen in sich, obwohl sie zum Teil kaum mit bloßem Auge zu erkennen sind. Das bleibt für mich ein unfassbares Wunder.

Ich wandere viel in diesen Tagen, immer wieder durch den Garten, aber auch in der Umgegend. Überall sind Schätze zu finden. Man muss nur etwas genauer hinsehen als im Sommer, aber es ist nicht schwer, weil alles so durchlässig ist, ohne Blätter. Da ist viel Raum für Glanz.

Nun liegt ein ganzes neues Jahr vor uns. Und während ich meine Hecke schneide, ehe die Vögel schon wieder zu brüten anfangen – singen tun sie schon – dann denke ich: So ein Jahr, da ist in jedem einzelnen Tag eine oder mehrere Überraschungen zu finden. Sei es eine vorwitzige Narzisse, ein Tropfen, in dem die Welt kopfsteht, ein filigranes Spiegelbild im Wasser oder eine Waldrebe mit fröhlicher Frisur. Oder eben die hoffnungsfrohen Keimlinge, die aus dem sagenhaften Inhalt all der Samentütchen sprießen und blühen werden, wenn ihre Zeit gekommen ist und sie ihren Platz gefunden haben. Man kann nicht durch einen Garten oder auch nur zum Briefkasten gehen, ohne etwas zu entdecken. So ein Jahr ist ein Adventskalender für dreihundertfünfundsechzig Tage. Wie aufregend! Ich freue mich so darauf.

Blind Date mit Flecken

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Letztes Jahr kannte ich es noch gar nicht – das Lungenkraut. Aber ich habe es an verschiedene Stellen gepflanzt, weil ich die unterschiedliche Zeichnung der Blätter so schön fand. Damals waren die Pflanzen recht mickrig und ich hatte so meine Zweifel.

Doch jetzt im Frühling begannen sie alle auf einmal zu wachsen – und zu blühen, in lauter verschiedenen Farben! Und das an Standorten, wo sonst nichts gedeiht.

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Das Lungenkraut hat sich in Nullkommanichts in mein Herz geschlichen. Ich zähle es jetzt definitiv zu meinen Freunden im Garten und bin froh, dass es mein Gast ist. wp-1587740552324.jpgHoffentlich beruht diese Freundschaft auf Gegenseitigkeit und es bleibt und gründet Familien.

Es lohnt sich auf jeden Fall, immer offen für neue Bekanntschaften zu sein.

Glück. Immer wieder.

wp-1586758640547.jpgJeder einzelne Tag ist nun eine Wundertüte. Jeden Morgen, wenn ich den Garten betrete, entdecke ich Freunde, die alt und neu zugleich sind. Zarte elfengleiche Wesen wie die Forellenlilie und die Schachbrettblume, die sich aus der noch kühlen Erde erheben, die Blätter vom Vorjahr beiseite schieben und sich in ihrer eigenen Vollendung entfalten.

Jedes Mal stehe ich wieder fassungslos davor, wie es so etwas geben kann, und dass es immer wiederkehrt, zusammen mit dem Licht und der Wärme und dem Neubeginn. Und dass ich dabeisein darf.

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Vergessichnicht

wp-1586968281577.jpgDas wie vom Himmel gefallene Blau der Vergissmeinnicht gehört zu den ersten Wundern, an die ich mich aus meiner Kindheit im Garten erinnern kann. Es zeigte mir, dass der Himmel erreichbar und manchmal ganz erdnahe ist. Obendrein hatte jede winzige Blüte einen freundlichen gelben, beinahe goldenen Kern. Sie waren so winzig, dass man sehr genau hinsehen musste, um ihn zu sehen. So lernte ich, nach dem Kleinen, Inneren zu suchen.

Ein Garten ohne Vergissmeinnicht ist für mich unvorstellbar. Zum Glück säen sie sich selbst aus. Sie sind so bescheiden, dass man sich noch nicht einmal um sie kümmern muss. Sie suchen sich ihren Platz selbst, man muss sie nur gewähren lassen.

Und wenn sie sich öffnen und mich morgens anlächeln, dann weiß ich, es ist Frühling und alles ist Himmelblau und möglich, wenn man das Helle in der Mitte nicht übersieht.

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Unter der Kälte

Na sowas! Eine Überraschung in Lucys Garten. Der erste Schnee in diesem Winter – und das im Frühling. Ich hatte ihn vermißt. Nun war er ein Geschenk.

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Ich war krank – nein, kein Corona, ein ganz normaler hartnäckiger grippaler Infekt. Darum war es ruhig hier und im Garten. Aber es hat mir wieder einmal gezeigt, was für große heilsame Kräfte in einem Garten oder einfach nur dem Anblick keimender Natur liegen. Mit den Veilchen und den Narzissen und den Blattknospen zusammen habe ich Stück für Stück meine Energie und meine Worte zurückgewonnen. Der Schnee war ein Bonus. Auf einmal lag zum Ende des März für einen Tag eine vom Himmel gefallene kühle Ruhe und ein ganz besonderer weicher, heller Zauber über allem. Ein Atemholen, ehe das große Wachsen richtig beginnt, der Chor aus Grüntönen, die Welle aus Farben, die uns mitnimmt in eine hoffentlich bald bessere Zeit. wp-1585573033104.jpg

Der Himmel und die Blüten gehen uns nicht verloren, ganz gleich was für erschreckende Geschehnisse uns gerade lähmen. Es kommt wieder eine Zeit des Aufbruchs und des Wachsens, auch für uns. Inzwischen hält die Natur die Welt um uns am Leben und bewahrt uns vor Verzweiflung.  Die meisten Blüten sind nicht erfroren unter der unvermuteten Kälte. Und manchmal birgt so eine Zwangspause ja auch ein wertvolles Geheimnis, das sich erst später zeigt. Wie das Schöne, das nach dem Tauen unter dem Schnee zum Vorschein kommt. Ein wenig gebeugt, aber durchaus lebensfähig und voller Freude.

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An-Blick

Es gibt unzählige Iris-Sorten, deren Namen ich mir nie merken kann. Auch von den Zwerg-Iris geistern diverse durch den Garten. Sie blühen häufig schon im Februar, und jedes Mal stehe ich verblüfft davor. Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse passen iwp-1581783442841.jpgn diese Jahreszeit, aber die beinahe unverschämt extravagante, knallbunte Blüte der Iris eben noch nicht. Für einen Moment frage ich mich unwillkürlich: Gehört sich das denn? So vorzupreschen? Die Euphorie des Sommers dermaßen vorwegzunehmen, ehe ähnliche Blumen nach dem Winter überhaupt das erste Mal gegähnt haben? Und ich mit der Gartenarbeit auch nur ernsthaft begonnen habe?

Sie stammt eigentlich aus dem östlichen Mittelmeerraum, vielleicht liegt es daran. Aber sie akzeptiert unsere Winter einfach. Auch die richtigen, die mit Schnee. Sie nimmt widerspruchslos die Bedingungen an, die sie vorfindet und macht nicht nur das Beste daraus, sondern noch eine ganze Menge mehr. Punkte hier, Striche dort, Knallgelb auf alle Blau- und Violettschattierungen geknallt, das Röckchen elegant gehoben, perfekte Körperspannung. Völlig ohne Wecker, Kaffee und Aufschieberitis steht sie am frostigen Morgen aufrecht im Wind unter Wolken. Restlos bereit für den zerbrechlichen Tanz, der Leben heißt.

Ich sehe sie immer erst, wenn sich die Blüten geöffnet haben, so wenig Aufhebens macht sie um sich. Und wenn sie mich dann so unversehens ansieht, gänzlich ausgeschlafen, und mir diese Farben auffordernd zu Füßen legt, dann ist es wie der erste Augenaufschlag des Frühlings.

Wie soll man da nicht verlieben? Jedes Jahr neu. In diesen Blick. In den Neubeginn. In das Sein.

Dickes Hühnchen

Früher mochte ich die von den Kindern gern auch als Dickes Hühnchen bezeichnete Fette Henne nicht besonders. Das hat sich gründlich geändert. Ja, sie kommt ein wenig stoisch daher und hat so gar nichts poetisch Filigranes – es sei denn, man betrachtet die wp-1581182021109.jpgBlüten mal genauer. Aber sie hat jede Menge gute Eigenschaften, und das macht sie unwiderstehlich. Vielleicht musste ich ein gewisses fortgeschrittenes Alter erreichen, um sie richtig zu würdigen.  Jetzt im Frühling ist sie eine der Ersten, die ungerührt von Grau und Kälte jenes zugewandte Wachsen in Angriff nimmt, das sich nun gehört. Zweifel kommen bei ihr gar nicht erst auf. Der Sturm ficht sie nicht an, ich glaube, sie bemerkt ihn gar nicht. Voller Optimismus zieht sie grüne Kreise. Was getan werden muss, vollzieht sie, und noch etwas mehr. Sie macht Mut. Sie ist bescheiden. Wenn man sie nicht gießt, ist es ihr schnuppe. Und auch, wie man sie nennt. Sie bleibt sie selbst. Man kann sich in vielerlei Hinsicht ein Beispiel an ihr nehmen.20190904_163229.jpg

Es gibt sie inzwischen in allen Farben des Spätsommers und Herbstes, und diese Farben glühen auch noch unbeirrt, wenn vieles andere schon aufgegeben hat. Und alles was summt und brummt liebt ihre Blüten. Ich jetzt auch. Sie darf sich in Lucys Garten gern ausbreiten. Auch wenn ich dann manchmal drumherumlaufen muss, um das ganz schön dicke Hühnchen.

Mehr Sein als Schein

Ich habe den Sommerflieder gründlich heruntergeschnitten, wie sich das im Februar gehört. So etwas kostet immer ein bisschen Überwindung. Es fühlt sich so brutal an. Aber es muss sein. Und dann stehe ich ehrfurchtsvoll davor und denke, was für ein unvorstellbares Wunder wp-1581182205338.jpges jedes Jahr wieder ist – dass aus diesen kahlen Ästen, in denen man kaum noch Leben vermuten würde, bald so viel Grün unaufhaltsam zum Himmel strebt. Dass in wenigen Monaten ein riesiger, duftender Blütenstrauß hier stehen wird, in dem sich Bienen und Falter drängen.

Es zeigt mal wieder, dass man nichts und niemanden unterschätzen sollte, schon gar nicht aufgrund von äußeren Eindrücken.

Und ja, ein bißchen Feinschliff braucht der Schnitt noch. Aber dafür war es zu windig heute.

Zitronerie

Als ich ein Kind war gab es in manchen Schlössern, die wir besichtigten, und auch in einigen Büchern „Orangerien“. Das klang geheimnisvoll. So exotisch und grandios, nach Marmorbrunnen und Kolibris. Ein Wort mit einem Duft und einem Traum und einem Abenteuer darin. Ich dachte, es müsste schön sein, eine Orangerie zu besitzen.

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Heute habe ich einen mit Geräten vollgestopften Gartenschuppen mit einem Plexiglasdach und einem Frostwächter. Orangen gedeihen aus unerfindlichen Gründen nicht besonders gut bei mir, aber umso mehr die Zitronen. Im Sommer draußen, im Winter zwischen Hacken, Stuhlkissen, Düngerpackungen und Gartenschläuchen. Wenn ich bei Schnee und Frost Zitronensaft möchte, gehe ich pflücken und erfreue mich an dem Duft. Mein Traum ist damit durchaus in Erfüllung gegangen, völlig grandios genug auch ohne Marmorbrunnen und Kolibris. Abenteuer suche ich nicht mehr, mein Garten ist immer eines. Und manchmal wird eine Orangerie eben eine Zitronerie. Das ist gut so.

Flugsterne

Wir neigen dazu, mit großer Ungeduld auf den Frühling zu warten. Doch heute begegnete mir auf einem Spaziergang eine leuchtende Wolke aus Federsternen. Samen, weich geborgen und in aller Ruhe wartend, bis die richtige Zeit gekommen ist. Bis ein warmer Wind wp-1579603969037.jpgsie an ihrem silbrigen Plüsch fortsegeln läßt an einen Ort, an dem sie gedeihen können. Und ich dachte mir: Genauso müssten wir es auch machen. Die Schönheit auskosten, die gerade das Wahre ist. Die Zeit der Ruhe genießen als das Geschenk, das sie ist und sein soll.  Darauf vertrauen, dass die Leichtigkeit und der Aufbruch genau dann kommen, wenn es an der Zeit ist.  Bis dahin ist es mehr als genug, den Glanz zu schauen.