Nachtwärme

Um Mitternacht im Liegestuhl, den Rücken ganz nach hinten gestellt. Die Stadt ist hell, viel zu hell, aber an einer bestimmten Stelle in Lucys Garten kann man dann doch Sterne sehen, sogar Sternbilder. Die Kassiopeia, das Himmels-W, stellvertretend für alle großen Fragen – Warum? Wohin? Wer? Was? Wann? – ist eine ganz alte Freundin von mir. Der große Wagen. Der Hundsstern, denn es sind die Hundstage, die nach ihm benannt sind, und sie sind so heiß, wie es sich für sie gehört. An eine Sichtbarkeit der Milchstraße ist hier nicht zu denken, aber dafür gibt es Flugzeuge, menschengemachte Sterne, die als eilige Funken durch das Firmament ziehen. Wer? Wohin? Warum?  Uns verbindet viel mit den Sternen, nicht nur unsere Herkunft. Wir oreintieren uns daran. Wir träumen darunter. Sie machen uns neugierig, treiben die Forschung voran. Sie erinnern uns an unsere Kleinheit im All, und das ist heilsam.

Es ist Sternschnuppennacht, die Tage der Perseiden, und ich warte. Eine Maus raschelt irgendwo, Nachtfalter kosten die Wandelröschen, eine Mücke sirrt im Ohr. Man müsste öfter so sitzen, allein mit der dunklen Stille, dem Duft vom Jelängerjelieber und den reifenden Pfirsichen, mit dem Himmel. Selbst die Zeit schweigt. Eigentlich braucht es gar keine Sternschnuppen.

Doch dann fällt etwas, ein Licht, ein wenig wärmer als das der Sterne, flüchtig, lautlos, zauberschön, eine Sekunde des kindlichen Staunens, beglückend. Und noch eins, huscht in eine andere Richtung, heller diesmal. Woanders wieder ein Zarteres, dann ein ganz Helles, blendend fast, quer durch die Kassiopeia. So hell, dass es einen Augenblick verweilt, vielleicht auch nur als Nachklang auf der Netzhaut, bevor es veglüht. Es macht mich sogar ein wenig traurig: da hört etwas auf zu sein, dass bisher unfassbar ewig und weit im All unterwegs war. Doch es schenkt uns im Vergehen diesen Moment, der im Gedächtnis bleibt und Mut macht. Es ist wohl gut so, das es so ist mit der Vergänglichkeit. Wir sind nicht so lange und weit unterwegs, und doch ist es kaum anders mit uns.

Uns verbindet viel mit den Sternen.

Irgendwo da draußen fällt etwas und verglüht und schenkt Licht, und dann ist es die Nacht, die in den Morgen fällt. In das Licht eines neuen Tages, in dem es Früchte zu ernten gibt und Blüten zu entdecken und ein Frosch sich in der Wärme sonnt.

August

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Das Leuchten ist jetzt anders, auf der anderen Seite der Sonnenwende. So warm und klar. Es unterstreicht den Zauber der Dinge. Nicht nur den der Blüten. Auch den der Treffen mit guten Freunden.

Eine eigene Ernte, ein filigraner Strauß, ein Lachen, eine Begegnung, ein Brief – alles ist kostbar in diesen heißen, leuchtenden, langsamen Sommertagen. Der August hält das Licht in seinen Handflächen, schreibt die Dichterin Victoria Eriksson.

Morgens zittern die Tropfen in den glänzenden Spinnweben wie vor freudiger Erwartung. Ein neuer Tag, in dem wir auf Entdeckungsreisen gehen können, im Garten, in Gesprächen im Schatten eines alten Baumes, zwischen den Seiten eines Buches mit dem Duft von Klee und dem Summen von Bienen um uns herum.

Die Hundstage bringen Blüten an Pflanzen hervor, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie gepflanzt habe. Alles ist leichter und doch zu groß für viele Worte. Das Glück liegt in der Stille.

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Die Wiese wächst nach der Mahd ein zweites unbeirrtes Mal. Früchte reifen zusammen mit den neuen Erinnerungen, die wir gerade erschaffen. Pfirsiche, Tomaten, Auberginen, Gurken. Das Wasser der Seen ist gerade noch erfrischend, trägt uns unter dem Himmel, der abends rosa Wolken treiben lässt wie Papierschiffchen.

Die Sommerabende kommen bereits ein wenig früher, aber sie sind voller Süße und Sanftheit, sie versöhnen mit der Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit der Zeit.

Sie haben uns für eine Weile sogar einen Kometen geschenkt. Doch die Sterne sind genug. Und manchmal sieht man sie sogar über der Stadt.

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Lebensunbändig

wp-1588062440058.jpgSo gern ich in Lucys Garten bin, an so vielen Tagen wie möglich öffne ich gleich morgens das Gartentor und laufe einfach los. Das ist meine Zeit, wenn der Tag neu ist, die Luft nach Tau und Aufbruch riecht und kaum jemand unterwegs ist. Der Weg von heute  ist nur bei großer Trockenheit begehbar. Bisher bin ich immer daran gescheitert. Diesmal, bei zwanzig Grad im April an einem Sommermorgen, der sich in Frühlingsgrün verkleidet hatte, öffnete er sich Schritt für Schritt, zwischen Apfelblüten und Schilf.

Und dann traf ich diesen Baum. Inmitten von Kranich- und Kuckucksrufen, Nachtigallen- und Lerchenkonzert stand er da unter dem weiten Himmel, fing mit gerade entfalteten Blättern die Sonne und spiegelte sich im Fließ. Ich hätte gern meinen Hut vor ihm gezogen, tat es mangels Kopfbedeckung im Geiste und unterhielt mich eine Weile still mti ihm. Er schenkte mir von seiner Ruhe und Genügsamkeit.

 

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Und ich dachte: Ja. So aufrecht und gelassen stehen, so tiefgründig und so grün noch. Mit allen ertragenen Stürmen und aller durchlebten Zeit, zerstörten Wurzeln und zahlreichen anderen Narben und Verletzungen,    selbst mit großen Stellen der Leere und Verlusten im Inneren. Bis zuletzt. Mein Mann hat das gekonnt; ich wünsche mir, dass es mir auch gelingt, ich arbeite immerhin daran. Und wir als Gesellschaft? Gerade jetzt? Ja, wir können es! ich glaube daran, wir haben es schon oft geschafft. Diesmal hoffe ich zutiefst, dass uns der Neustart auch gleich umweltfreundlicher gelingt und wir nicht nur diesem Baum respektvoll und stützend unter die Äste greifen werden.

Noch oft möchte ich einen Moment mit ihm teilen. Ich wünsche uns allen und jenen nach uns, dass die Lerchen  über ihm nicht verstummen. Dass die Meisen in seinen Armen nicht heimatlos werden und die Träume des Wiesenschaumkrauts zu seinen Füßen nicht dem Staub weichen.

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Für den Augenblick aber genügt es, nur zu sein. Das geht immer. Zu spüren, zu hören, zu schauen und so still und erfüllt im Hier und jetzt zu stehen wie der alte Baum, durch den das Licht fällt.

Schattenkunst

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Der Schemtterlingsflieder wächst und blüht desto besser, desto tiefer man ihn zuvor heruntergestutzt hat. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen, nur ist das für den Menschen ungleich schwerer.

Doch der Flieder malt selbst in seinem jetzigen kahlen und gekürzten Zustand elegante und geheimnisvolle Zeichnungen voller Potenzial an die Wand. In ein paar Wochen wird er voller Triebe und Blätter sein, dicht und schon wieder beinahe doppelt so hoch. Mit der Wärme folgen Blüten, Duft und Schmetterlinge. Von alledem erzählt der Schatten schon jetzt – und  ich freue mich gern noch eine geduldige Weile über dieses Spiel von Sonne, Tageszeit und lebendiger Form.

Des Frühlings Bügelfalten

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Der Drache Apollo bewacht die Narzissen und die Buchenhecke, an der sich der Frühling entfaltet. In jedem April  ist es ein Fest, wenn die ersten hellgrünen Bläter dem Ruf des Sonnenlichts folgen und sich auffalten wie Fächer. Unfassbar, wie jedes Blatt in seine enge braune Knospe gepackt ist. Und wie sauber sich dann all diese geraden Falten ent-falten und zu einem perfekten Kunstwerk werden, das nicht nur ästhetisch ein Genuss sondern auch gleich noch eine kleine Fabrik ist, weil es mit der Photosynthese beginnt.

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Am liebsten würde ich mich neben Apollo setzen und den ganzen Tag dabei zusehen und in diesem hellgrünen jungen Leuchten baden.

Vergessichnicht

wp-1586968281577.jpgDas wie vom Himmel gefallene Blau der Vergissmeinnicht gehört zu den ersten Wundern, an die ich mich aus meiner Kindheit im Garten erinnern kann. Es zeigte mir, dass der Himmel erreichbar und manchmal ganz erdnahe ist. Obendrein hatte jede winzige Blüte einen freundlichen gelben, beinahe goldenen Kern. Sie waren so winzig, dass man sehr genau hinsehen musste, um ihn zu sehen. So lernte ich, nach dem Kleinen, Inneren zu suchen.

Ein Garten ohne Vergissmeinnicht ist für mich unvorstellbar. Zum Glück säen sie sich selbst aus. Sie sind so bescheiden, dass man sich noch nicht einmal um sie kümmern muss. Sie suchen sich ihren Platz selbst, man muss sie nur gewähren lassen.

Und wenn sie sich öffnen und mich morgens anlächeln, dann weiß ich, es ist Frühling und alles ist Himmelblau und möglich, wenn man das Helle in der Mitte nicht übersieht.

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Spot an

Es überrascht mich jedes Jahr wieder, was mir zeigt, wie schnell man es vergißt. Wenn die Sonne ganz tief steht, und auch davor und danach, wenn sie ganz langsam an wp-1577883665462.jpgHöhe verliert und dann wieder gewinnt, dann zaubert sie aus dem Hut, was gerade zur hellsten Jahresteit im Schatten lag. Auf einmal findet ein Lichtstrahl einen Weg unter ein Dach oder einen Baum und entdeckt eine Deko, die den ganzen Sommer unsichtbar an der Wand in einem Winkel hing. Und mit ihr einen lieben Gedanken oder eine Erinnerung, fast vergessen. Oder eine späte Blüte, vorher nie beachtet. Einen frühen Schmetterling, der gerade erwacht. Auf einmal glänzt etwas hell und unübersehbar an Stellen, die man immer wieder aus dem Blick verliert.

Die kurzen Tage sind gut zum Ausruhen, für Mensch und Natur. Aber sie eröffnen nebenbei ganz andere Räume. Sie fordern auch zum Hinsehen auf, zum Aufschließen, zum Begreifen.

Die dunkle Jahreszeit ist gar nicht dunkel. Sie wirft nur andere Schlaglichter.

Bei uns piept es

Heute bin ich zum ersten Mal in diesem Frühling von Vogelgesang aufgewacht. Ich glaube, es war das Rotkehlchen, vielleicht auch eine Amsel, begleitet von einer wp-1580659379747.jpgmunteren Hintergrundboyband aus Spatzen.

Die Amsel hat auch schon an Weihnachten gesungen, mitten in der Nacht. Das ist so hier in der Stadt, in der es niemals mehr dunkel wird.

Doch heute war es anders. Dieses Lied handelte vom Frühling. Von Beginn und Neubeginn. Von neuem Mut, neuem Licht und neuen Tagen. Von uraltem Vertrauen, dass es so kommt, wieder und wieder. Wenn wir mitmachen. Wenn wir singen. Oder einfach nur, falls man nicht singen kann, einen Moment länger im Bett liegen bleibt, verzaubert lauscht und mit den Tönen vor Freude innerlich in den graugoldrosarotfeuchtsilbermorgendämmrigen Himmel schwebt.  Weil man unfassbar glücklich ist in einer Welt leben zu dürfen, in der Vögel singen.

Flugsterne

Wir neigen dazu, mit großer Ungeduld auf den Frühling zu warten. Doch heute begegnete mir auf einem Spaziergang eine leuchtende Wolke aus Federsternen. Samen, weich geborgen und in aller Ruhe wartend, bis die richtige Zeit gekommen ist. Bis ein warmer Wind wp-1579603969037.jpgsie an ihrem silbrigen Plüsch fortsegeln läßt an einen Ort, an dem sie gedeihen können. Und ich dachte mir: Genauso müssten wir es auch machen. Die Schönheit auskosten, die gerade das Wahre ist. Die Zeit der Ruhe genießen als das Geschenk, das sie ist und sein soll.  Darauf vertrauen, dass die Leichtigkeit und der Aufbruch genau dann kommen, wenn es an der Zeit ist.  Bis dahin ist es mehr als genug, den Glanz zu schauen.

 

In dunkler Tiefe

Unter der Stadt, wo die U-Bahn quietschend Menschenströme in ihren Tag und zurück trägt, da wächst nichts. Das Licht ist künstlich und kennt keine Zeiten. Nur an der Kleidung der Mitfahrer merkst du, ob Winter ist oder Sommer.  Du musst da durch und sehnst dich doch die ganze Zeit nach etwas anderem, nach Oben, nach Luft, nach Himmel, nach Grün, nach einem einzigen Blatt wenigstens.

wp-1578315199408.jpgUnd dann merkst, du, dass selbst hier jemand ein bißchen Garten untergebracht hat. Dass Stadtplaner, Architekten, Fliesenleger bei aller Arbeit und Sachlichkeit doch daran gedacht haben, was den Mensch ausmacht. Was er in der Tiefe braucht, um zu atmen und zu träumen. Sie haben selbst hier im ansonsten gnadenlosen Bauch der Stadt ein bißchen Garten geschaffen, manchmal sogar einen ganzen Wald. Jedenfalls die Erzählung davon, die Erinnerung, die Hoffnung. Manchmal genügt das, um die Seele durch den Tag zu bewegen, so wie es die Bahn mit dem Körper tut.

Dann weißt du, dass wir alle einen Garten in uns tragen, auch wenn er manchmal nur im Dunkeln liegt. Dann ahnst du, dass alle diese unterschiedlichen Menschen aus den vielen Ländern mit den vielen Sprachen die hier gemeinsam Bahn fahren und das manchmal schwierig finden, doch etwas gemeinsam haben, etwas Uraltes, Großes, Einfaches. Etwas ohne Worte.

Etwas Grünes, Zuversichtliches.

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