Ein neues Jahr, noch ist es graubraun wie eine reglose Schmetterlingspuppe. Aber in so einer Puppe geschehen wundersame Dinge. Ein Wesen bekommt Flügel, die es auf eine Zeit voller Farbe und zwischen Himmel und Erde vorbereiten. So ähnlich geht es uns auch. Man denkt sich zukünftige Gärten aus, blättert in Samenkatalogen und findet kleine Wunder in den Blüten auf dem Fensterbrett – drinnen eben. Aber in aller Bescheidenheit beginnt auch draußen einiges. Schneeglöckchen blühen still schon mal auf, und mancher findet das zu früh, obwohl es schon immer so war. Es gibt eben geschützte Ecken, überall, auch für uns. Das Träumen ist so eine. Das darf man genießen. Nicht nur produzieren und konsumieren. Auch einfach nur mal in den inneren Gärten spazieren gehen. Lustwandeln hieß das früher, was für ein schönes Wort. Da gibt es so viel zu entdecken und zu genießen, und alles darf dort immer blühen, jederzeit und zeitlos. Und es gibt keine Zäune, an denen sie enden.
Ja, und die Zaubernuss, die zeigt schon mal Flagge, auch draußen, ungeniert, unbeirrt und beglückend.
Nein, das ist kein Rechtschreibfehler. Dieser Tage sehe ich die Bienen und so viele andere, teils noch ein wenig verschlafene Insekten in Lucys Garten und überall drumherum. Ich genieße ihre hoffnungsfrohe Gesellschaft und ich sehe, wie sie ihre beneidenswert beweglichen langen Fühler in diese zarte, farbendurchtränkte Welt strecken, so weit in alle Richtungen, begierig nach Licht und Aromen und ihren jeweils eigenen Frühlingsplänen. Mir ist genauso zumute, und auch wenn unsere Fühler anders aussehen, wir besitzen sie auch! Also: Schuhe aus, und das erste Mal barfuß durch den Garten in diesem Jahr. Und dann fühle(r)n.
Das Fühlern ist so neu wie damals in der Kindheit, jedes Jahr wieder, auch nach sechundfünzig Jahren. Das junge Gras. Sonnenwarmes Holz, schattenkühles Holz. Kies und Steine. Kleine Äste. Moos und Klee. Trockener Sand und feuchte, fruchtbare Erde, deren Duft aufsteigt, wenn man sie berührt. Eine Fülle von Wahrnehmung unter den nackten Solen, die noch so empfindlich sind jetzt nach dem langen Winter. Doch diese Empfindsamkeit macht hellwach, und der Hautkontakt zum Boden, zu unserem Planeten, beglückt ganz unmittelbar. Abends werde ich irgendwann versuchen, die Erdspuren abzuwaschen und es wird ein Rest bleiben, der sich nicht entfernen lässt, weil unsere Haut und die der Erde einander doch so nahe und ähnlich sind, wenn man es nur nicht vergißt und auf dem Boden der Tatsachen bleibt. Diese Tatsachen sind doch im Grunde so einfach und so groß und so mehr als ausreichend. Das sehe ich im Gesicht jeder sich öffnenden Blüte.
Die pure Lebensenergie fließt von der Wiese, die gerade zu grünen beginnt, durch die Fußsohlen in mich hinein. Das ist so viel mehr als irgendein Fitnesstraining oder Entertainment. Das fühlt sich ganz und vollkommen und sowas von richtig an und ich finde, Barfußgehen im Frühling müsste ganz oben auf die Liste der schönsten Lebensereignisse. Dass wir fühlen können, ist ein Geschenk, aber das hier, in diesem Moment, an einem solchen Tag – da ist es eben mehr als Fühlen, da ist es Fühlern, dann können wir alle Sinne so weit und beweglich strecken wie die Insekten.
Dazu vielleicht noch das erste Eis am Stiel. Und wenn man diese ganze Glückseligkeit dann auch noch mit einem lieben Menschen teilen darf, der das Fühlern nicht nur versteht sondern ähnlich empfindet, dann ist es ohne Worte, dann ist es nur noch wie ein perfekt gelungenes Bild, voller zauberhafter Farben, Vogelmusik, Gerüchen und Geschmack und alten und neuen Erinnerungen, zeitlos und unzerstörbar.
Fühlern, das geht immer, auch in schweren Zeiten, sofern es nur die Gesundheit zulässt. Also, raus ins Grüne, und Schuhe aus, Leute!
Und frohe, gesunde und zuversichtliche Ostern! Es ist ein Fest der Erneuerung und Hoffnung für alle, egal welchen Glaubens oder ob ohne Glauben. Die Natur macht es uns vor. Und es gilt auch in diesem Jahr. Darum zünde ich euch noch eine Osterkerze an.
Den Gingko habe wir zur Hochzeit geschenkt bekommen. Er hat seither viel erlebt. In jedem Frühling erzählt er diese Geschichten neu. Wenn diese Blätter sich wie ein kleines grünes Feuerwerk entfalten, ist das für mich ein besonderes Sinnbild für Frühlingsglück. Er nimmt nicht viel Platz ein und ist genügsam, aber er zielt geradewges zum Himmel, jedes Jahr ein bißchen weiter. Und im Herbst leuchtet er golden wie die Erinnerungen.
Er ist so hoch und weit und groß, dieser Himmel, und der Baum teilt ihn gern mit all den vielen Blüten um ihn herum, mit diesem Chor aus Farbe und Form, der einen stummen Lobgesang auf das Leben anstimmt. Im Mai, dem Monat der Freude, der Zuversicht, des Wachsens und des Neubeginns. Da kann ich stundenlang mittendrin stehen, und staunen, und das Blau einatmen und einssein mit alledem.
Und dann auch loslassen, was losgelassen werden muss, und mich zusammen mit dem Mai dem Neuen zuwenden.
Der Drache Apollo bewacht die Narzissen und die Buchenhecke, an der sich der Frühling entfaltet. In jedem April ist es ein Fest, wenn die ersten hellgrünen Bläter dem Ruf des Sonnenlichts folgen und sich auffalten wie Fächer. Unfassbar, wie jedes Blatt in seine enge braune Knospe gepackt ist. Und wie sauber sich dann all diese geraden Falten ent-falten und zu einem perfekten Kunstwerk werden, das nicht nur ästhetisch ein Genuss sondern auch gleich noch eine kleine Fabrik ist, weil es mit der Photosynthese beginnt.
Am liebsten würde ich mich neben Apollo setzen und den ganzen Tag dabei zusehen und in diesem hellgrünen jungen Leuchten baden.
Das wie vom Himmel gefallene Blau der Vergissmeinnicht gehört zu den ersten Wundern, an die ich mich aus meiner Kindheit im Garten erinnern kann. Es zeigte mir, dass der Himmel erreichbar und manchmal ganz erdnahe ist. Obendrein hatte jede winzige Blüte einen freundlichen gelben, beinahe goldenen Kern. Sie waren so winzig, dass man sehr genau hinsehen musste, um ihn zu sehen. So lernte ich, nach dem Kleinen, Inneren zu suchen.
Ein Garten ohne Vergissmeinnicht ist für mich unvorstellbar. Zum Glück säen sie sich selbst aus. Sie sind so bescheiden, dass man sich noch nicht einmal um sie kümmern muss. Sie suchen sich ihren Platz selbst, man muss sie nur gewähren lassen.
Und wenn sie sich öffnen und mich morgens anlächeln, dann weiß ich, es ist Frühling und alles ist Himmelblau und möglich, wenn man das Helle in der Mitte nicht übersieht.
Es gibt unzählige Iris-Sorten, deren Namen ich mir nie merken kann. Auch von den Zwerg-Iris geistern diverse durch den Garten. Sie blühen häufig schon im Februar, und jedes Mal stehe ich verblüfft davor. Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse passen in diese Jahreszeit, aber die beinahe unverschämt extravagante, knallbunte Blüte der Iris eben noch nicht. Für einen Moment frage ich mich unwillkürlich: Gehört sich das denn? So vorzupreschen? Die Euphorie des Sommers dermaßen vorwegzunehmen, ehe ähnliche Blumen nach dem Winter überhaupt das erste Mal gegähnt haben? Und ich mit der Gartenarbeit auch nur ernsthaft begonnen habe?
Sie stammt eigentlich aus dem östlichen Mittelmeerraum, vielleicht liegt es daran. Aber sie akzeptiert unsere Winter einfach. Auch die richtigen, die mit Schnee. Sie nimmt widerspruchslos die Bedingungen an, die sie vorfindet und macht nicht nur das Beste daraus, sondern noch eine ganze Menge mehr. Punkte hier, Striche dort, Knallgelb auf alle Blau- und Violettschattierungen geknallt, das Röckchen elegant gehoben, perfekte Körperspannung. Völlig ohne Wecker, Kaffee und Aufschieberitis steht sie am frostigen Morgen aufrecht im Wind unter Wolken. Restlos bereit für den zerbrechlichen Tanz, der Leben heißt.
Ich sehe sie immer erst, wenn sich die Blüten geöffnet haben, so wenig Aufhebens macht sie um sich. Und wenn sie mich dann so unversehens ansieht, gänzlich ausgeschlafen, und mir diese Farben auffordernd zu Füßen legt, dann ist es wie der erste Augenaufschlag des Frühlings.
Wie soll man da nicht verlieben? Jedes Jahr neu. In diesen Blick. In den Neubeginn. In das Sein.
Es überrascht mich jedes Jahr wieder, was mir zeigt, wie schnell man es vergißt. Wenn die Sonne ganz tief steht, und auch davor und danach, wenn sie ganz langsam an Höhe verliert und dann wieder gewinnt, dann zaubert sie aus dem Hut, was gerade zur hellsten Jahresteit im Schatten lag. Auf einmal findet ein Lichtstrahl einen Weg unter ein Dach oder einen Baum und entdeckt eine Deko, die den ganzen Sommer unsichtbar an der Wand in einem Winkel hing. Und mit ihr einen lieben Gedanken oder eine Erinnerung, fast vergessen. Oder eine späte Blüte, vorher nie beachtet. Einen frühen Schmetterling, der gerade erwacht. Auf einmal glänzt etwas hell und unübersehbar an Stellen, die man immer wieder aus dem Blick verliert.
Die kurzen Tage sind gut zum Ausruhen, für Mensch und Natur. Aber sie eröffnen nebenbei ganz andere Räume. Sie fordern auch zum Hinsehen auf, zum Aufschließen, zum Begreifen.
Die dunkle Jahreszeit ist gar nicht dunkel. Sie wirft nur andere Schlaglichter.
Wenn es draußen zu ungemütlich ist, dann passt der Frühling auch mal in Urgroßoma Margaretes Waschschüssel im Wintergarten. Auch so ein winzigkleiner Frühling reicht,
um glücklich zu machen, weil auch er eine ganz große Gegenwart ist.
Und da er die Seele erfrischt, ist eine Waschschüssel eigentlich ein recht passender Platz.
Urgroßoma Margarete hat sich einst ganz bestimmt an genau den gleichen Blumen erfreut. So ist Frühling eine lebendige Brücke zu allen Vorfahren, die jemals eine Narzisse gesehen haben. Sicher auch oft mit dem Gefühl, dass nun erstmal alles leichter wird, egal wie schwer es gerade ist.
Ich habe den Sommerflieder gründlich heruntergeschnitten, wie sich das im Februar gehört. So etwas kostet immer ein bisschen Überwindung. Es fühlt sich so brutal an. Aber es muss sein. Und dann stehe ich ehrfurchtsvoll davor und denke, was für ein unvorstellbares Wunder es jedes Jahr wieder ist – dass aus diesen kahlen Ästen, in denen man kaum noch Leben vermuten würde, bald so viel Grün unaufhaltsam zum Himmel strebt. Dass in wenigen Monaten ein riesiger, duftender Blütenstrauß hier stehen wird, in dem sich Bienen und Falter drängen.
Es zeigt mal wieder, dass man nichts und niemanden unterschätzen sollte, schon gar nicht aufgrund von äußeren Eindrücken.
Und ja, ein bißchen Feinschliff braucht der Schnitt noch. Aber dafür war es zu windig heute.
Heute bin ich zum ersten Mal in diesem Frühling von Vogelgesang aufgewacht. Ich glaube, es war das Rotkehlchen, vielleicht auch eine Amsel, begleitet von einer munteren Hintergrundboyband aus Spatzen.
Die Amsel hat auch schon an Weihnachten gesungen, mitten in der Nacht. Das ist so hier in der Stadt, in der es niemals mehr dunkel wird.
Doch heute war es anders. Dieses Lied handelte vom Frühling. Von Beginn und Neubeginn. Von neuem Mut, neuem Licht und neuen Tagen. Von uraltem Vertrauen, dass es so kommt, wieder und wieder. Wenn wir mitmachen. Wenn wir singen. Oder einfach nur, falls man nicht singen kann, einen Moment länger im Bett liegen bleibt, verzaubert lauscht und mit den Tönen vor Freude innerlich in den graugoldrosarotfeuchtsilbermorgendämmrigen Himmel schwebt. Weil man unfassbar glücklich ist in einer Welt leben zu dürfen, in der Vögel singen.