Koelle & Kalani

wp-1594046007499.jpgAm Samstag habe ich  Lucys Garten einmal sich selbst überlassen. Ich war mit meinem Stehpaddelbrett auf dem See, ganz früh am Morgen. Das Brett habe ich im letzten Sommer auf den Namen Kalani getauft, das ist ein hawaiianisches Wort für Himmel. Denn wenn ich darauf stehe und auf dem klaren Wasser unterwegs bin, in dem sich dieser Himmel spiegelt, dann sieht es für mich aus als führe ich durch Wolken. Es war so früh, dass ich allein war bis auf einige Schwimmer. Der glänzende große Spiegel war leer bis auf mich kleinen Punkt. Und dann stieg die Sonne über die Baumwipfel, streute ihr Funkeln auf den See und warf mir eine Brücke aus Licht zu.

Ich habe einmal eine Kindergeschichte geschrieben darüber, dass dieses Glitzern auf dem Wasser, dies zauberhafte Funkeln all die Träume sind, die den Menschen in den Sinn kommen wenn sie aufs Wasser blicken. Oft werden sie dort vergessen und womöglich nie wieder abgeholt, also treiben sie dort und funkeln.

Aber die Wahrheit, dachte ich jetzt neben dem Rhythmus der Paddelschläge, die ist viel  unwahrscheinlicher, größer und märchenhafter: Ein unvorstellbar weit entfernter, unbegreiflich riesiger und unfassbar heißer Stern irgendwo im All streut dieses Funkeln auf das Wasser. Nicht für uns, sondern aufgrund bloßer physikalischer Fakten, und doch sind wir hier und in der Lage, es als Geschenk zu empfinden. Aber nur, weil das Magnetfeld der Erde uns schützt, und weil es die Schwerkraft gibt, die uns und das Wasser vor der Fliehkraft und dem freien Fall bewahrt, weil sich um einen glühenden Kern eine bewegliche Kruste geformt hat, weil es Vertiefungen gibt und das Wasser, das sich darin sammelte, weil da die Atmosphäre entstanden und geblieben ist, die Wunderbares mit dem Licht anstellt – all das und noch viel mehr! Das Ganze ist eine so haarsträubend unglaubwürdige Geschichte und dabei oder deswegen so beglückend, dass es einer jener Momente ist, die mich öfters überfallen. Wenn es keine Worte mehr gibt, nur Staunen, wenn das atemlose, haltlose, dankbare und demütige Sein so groß ist, dass ich froh bin, mich am Paddel festhalten zu können, und dann ist es wie Schweben, wie Fliegen ohne Abheben, nur der Himmel, das Wasser, das Licht und eine Leichtigkeit, die fast schon wieder zu groß ist um sie lange auszuhalten.

Inzwischen füllt sich der See, es mehren sich andere Paddler und das Bild des Alltags schiebt sich wieder über den Tag. Haubentaucherküken fischen in den Wellen, Graureiher wachen, Jungfische ziehen in silbernen Schwärmen unter mir vorbei. Doch dann kommt ein Wind auf, der sich bei blauem Himmel rasch zu einem veritablen Sturm entwickelt. Plötzlich ist kein Vorwärtskommen mehr gegen die Strömung, ich muss mich hinknien, klein machen, weniger Widerstand bieten. Ich mag das, den Wind, ich kämpfe mich vorwärts bis zur Boje und binde Kalani dort an, lege mich auf den Rücken und betrachte diesen wandelbaren Himmel mit den Schwalben darin, die inmitten der Böen einen triumphalen Kunstflug vorführen. Eine Libelle ruht sich auf meinem Bauch aus. Die Wellen wiegen mich. Ich vergesse die Zeit und entwerfe die Biographie meines neuen Protagonisten, und als ich mich aufsetze, ist der See wieder leer. Die anderen Paddler haben aufgegeben und sind verschwunden, die Schwimmer auch. Am Ufer beugen sich die Bäume in einem wilden Tanz. Ich denke: Wie gut, wenn man einen Anker hat in den Stürmen, die wir alle erleben! Eine Boje, ein Zuhause, eine Liebe oder ein Ziel.

Und dann löse ich die Schnur und stehe auf, und auf dem Rückweg brauche ich keinen einzigen Paddelschlag. Ich komme dennoch so schnell vorwärts, dass Kalani eine rauschende Bugwelle verursacht.

Denn jetzt habe ich Rückenwind. Den gibt es auch, immer wieder.

wp-1594048182069.jpg