Sommerstille

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Sommeranfang, und wenn ich im Garten bin, finde ich zur Zeit keine Worte. Darum ist es hier so ruhig geworden. Sommer! Die Momente zwischen der Geschäftigkeit. Himmel, Erde, Bienensummen. Die unzähligen so verschiedenen Blüten, die sich öffnen, den Tag mit Duft und Farbe bestreichen und dann fallen. Die Vergänglichkeit macht sie noch intensiver, kostbarer, unfassbarer, so wie uns alle, so wie die, an die wir uns erinnern. Die allerersten Grillen im Gras, die genau davon singen, von der Zeit, die vergeht und der Süße der Gegenwart. Barfuß im Tau.

Ich brauche keine Worte im Garten, manchmal, weil  alles das genügt, weil es so viel mehr in sich trägt als Worte. Das spricht eine ganz andere Sprache. Das Rotschwänzchen, das im Kasten an der Hauswand brütet, teilt dieses stille Reich mit mir, auch wenn es zum stummen Staunen keine Zeit hat. Es muss füttern, damit es auch im nächsten Jahr Rotschwänzchen gibt. Niemand von uns möchte eine Welt ohne Rotschwänzchen. Zum Glück hat dieses es leicht in Lucys Garten, denn da sind so viele Insekten und Würmer unterwegs, dass es nur rund um sich her schnappen muss.

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Vielleicht liegt es auch daran, dass ich gerade zwischen den Geschichten bin, dass die Worte sich zurückhalten. Sie ruhen sich aus. Die eine Geschichte beeendet, die andere noch nicht begonnen. Ich war heute früh unterwegs, Hand in Hand mit dem kühlen Morgen. Durch die Felder, in das Kalkmoor. Ein verwunschener Ort, mit kleinen Geheimnissen in dunkelschimmernden Tümpeln, mit Urwald und Brachflächen, und immer der Kuckuck, und der Pirol, und die Kraniche. Dazwischen liegen Bruchstücke von neuen Geschichten, glänzend im Gras, ich brauche sie nur aufsammeln. Aber sie verhalten sich wie Schmetterlinge, mal hier, mal da, nicht greifbar, dann doch wieder zutraulich. Ich nehme sie mit, in unsichtbaren Taschen. Ordnen kann ich sie später. Sie sind noch jung, im Larvenstadium, sie brauchen auch noch keine Worte.

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Das Kalkmoor ist eine gefährdete Landschaft. Hier wird sie gerade renaturiert, man versucht, zu erhalten was noch nicht ganz verloren ist. Dabei haben sie Reste der Mauer gefunden, die dornenbewehrten Eisengitter, die man einst in den Gräben des Moores versenkt hat damit niemand im Schutz des dunklen Wassers aus dem Osten in den Westen fliehen konnte. Stalinrasen nannte man sie. Heute fliegt der Pirol darüber, weil es wieder mehr von ihm gibt, und die Menschen wandern hin und her, ungehindert. Die Getreidefelder sind staubtrocken, es regnet so gut wie nie, aber immerhin liegt dicker, goldener Frieden über dem Land.

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Es sind die Geschichten, die uns zusammenhalten. Die wahren, und die, die wahr sein könnten. Manchmal müssen wir sie erzählen, und manchmal müssen wir zuhören, wenn es die Geschichten ohne Worte sind. Irgendwann schlüpfen sie, wie die Libellenlarven, die im Moor an den Halmen hochklettern und im Morgenlicht ihre Flügel zum ersten Mal glätten, um sich dann, wenn sie den Mut finden, in den neuen Tag aufzuschwingen.

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Bei uns piept es

Heute bin ich zum ersten Mal in diesem Frühling von Vogelgesang aufgewacht. Ich glaube, es war das Rotkehlchen, vielleicht auch eine Amsel, begleitet von einer wp-1580659379747.jpgmunteren Hintergrundboyband aus Spatzen.

Die Amsel hat auch schon an Weihnachten gesungen, mitten in der Nacht. Das ist so hier in der Stadt, in der es niemals mehr dunkel wird.

Doch heute war es anders. Dieses Lied handelte vom Frühling. Von Beginn und Neubeginn. Von neuem Mut, neuem Licht und neuen Tagen. Von uraltem Vertrauen, dass es so kommt, wieder und wieder. Wenn wir mitmachen. Wenn wir singen. Oder einfach nur, falls man nicht singen kann, einen Moment länger im Bett liegen bleibt, verzaubert lauscht und mit den Tönen vor Freude innerlich in den graugoldrosarotfeuchtsilbermorgendämmrigen Himmel schwebt.  Weil man unfassbar glücklich ist in einer Welt leben zu dürfen, in der Vögel singen.

In dunkler Tiefe

Unter der Stadt, wo die U-Bahn quietschend Menschenströme in ihren Tag und zurück trägt, da wächst nichts. Das Licht ist künstlich und kennt keine Zeiten. Nur an der Kleidung der Mitfahrer merkst du, ob Winter ist oder Sommer.  Du musst da durch und sehnst dich doch die ganze Zeit nach etwas anderem, nach Oben, nach Luft, nach Himmel, nach Grün, nach einem einzigen Blatt wenigstens.

wp-1578315199408.jpgUnd dann merkst, du, dass selbst hier jemand ein bißchen Garten untergebracht hat. Dass Stadtplaner, Architekten, Fliesenleger bei aller Arbeit und Sachlichkeit doch daran gedacht haben, was den Mensch ausmacht. Was er in der Tiefe braucht, um zu atmen und zu träumen. Sie haben selbst hier im ansonsten gnadenlosen Bauch der Stadt ein bißchen Garten geschaffen, manchmal sogar einen ganzen Wald. Jedenfalls die Erzählung davon, die Erinnerung, die Hoffnung. Manchmal genügt das, um die Seele durch den Tag zu bewegen, so wie es die Bahn mit dem Körper tut.

Dann weißt du, dass wir alle einen Garten in uns tragen, auch wenn er manchmal nur im Dunkeln liegt. Dann ahnst du, dass alle diese unterschiedlichen Menschen aus den vielen Ländern mit den vielen Sprachen die hier gemeinsam Bahn fahren und das manchmal schwierig finden, doch etwas gemeinsam haben, etwas Uraltes, Großes, Einfaches. Etwas ohne Worte.

Etwas Grünes, Zuversichtliches.

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