Winter-G(K)arten

As ich klein war, bekamen wir jede Menge Weihnachtskarten. Richtige, aus Papier, denn eMails oder diese unsäglichen blinkenden elektronischen „Grußkarten“ gab es noch nicht. Mein Vater hatte viele Studenten, und wenn sie ihren Abschluß hatten, begaben sie sich in alle Welt. Von dort schrieben sie Weihnachtskarten aus allen erdenklichen warmen und kalten Ländern. Auch gab es alle möglichen Firmen und Vereine, die sich bei meinem Vater in Erinnerung bringen wollten, und da sie aufgrund seines Fachs oft mit Weltraumfahrt zu tun hatten, gab es auf den Karten Motive mit weitem Himmel, unzähligen Sternen und Planeten und einer Menge Universum.

Die Karten klebten wir alle als Rahmen um die Tür zum Weihnachtszimmer. Für mich war es ein magischer Garten, in dem ich in meiner Phantasie spazierengehen konnte, denn draußen war um die Zeit ja nicht mehr so viel möglich und die Tage kurz. So war ich in Gedanken in Wüsten und an Polen unterwegs, flog durch die Milchstraße, traf Rehe und Hasen in tiefem Schnee und sah den Weihnachtsstern hell über traumhaften Horizonten. Das war mein Winter-Garten, und er war vielfältig und grenzenlos.

Nach Weihnachten breiteten wir alle Karten auf der Tischtennisplatte aus und wählten mit viel Bedacht und Diskussionen der sechs- oder mehrköpfigen Familie in mehreren Runden die Schönste von allen aus. Meist war dies eine mit einer verschneiten Landschaft, Tieren, magischem Licht, ein wenig Silberglanz und Sternen. Die Originellste bekam außerdem einen Sonderpreis. Die Gewinner erhielten dann eine Art Urkunde, eine Karte von uns mit der Erklärung, dass und warum diese Karte uns so gefalllen hatte.

Das spornte natürlich an, und so wurden die Karten immer schöner und mein Garten noch reichhaltiger an Überraschungen und Zauber.

Darum freue ich mich heute noch über richtige Weihnachtskarten, die man anfassen und an die Tür hängen kann. Auch wenn sie schlichter geworden sind und nur noch so selten vorkommen, als wären sie zu einem jener scheuen, heimlichen Geschöpfe geworden, die mir damals in den Bildern begegneten. Und wenn es mir möglich ist, schreibe ich welche, damit irgendwo jemand für einen lichten Augenblick der Ruhe in Gedanken durch einen Garten oder eine Landschaft spazieren kann.

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