Unsichtbare Spuren

Die Amsel nistet schon zum zweiten Mal in diesem Jahr. Auf der Lampe, die nie brennt, weil der Mond hell genug ist, und ohne ihn auch die Nacht in der Stadt. Sie fühlt sich geschützt dort und hat das alte Nest gleich noch einmal verwendet. Gelegentlich ärgert sie sich, dass ich so oft dort vorbeigehe, aber sie weiß auch, dass das mehr Sicherheit für sie bedeutet. Sie duldet den Menschen in ihrem Revier, weil er zumindest hier besser für sie ist als Katzen und Waschbären.

Die Hecke ist schnell blickdicht geworden, das Grün hat sich wie eine Welle über den Garten ausgebreitet. Die Frühlingszwiebeln sind verblüht, dafür geben nun Akelei, Waldrebe, die ersten Wiesenblumen, der Goldlack und die Präriekerze ein Konzert aus Farben. Der Löwenzahn mit seinem frechen, geliebten Knallgelb ist gekommen und in Form von ebenso geliebten Pusteblumen schon beinahe wieder gegangen. Die blaue Holzbiene war schon da, und ihre kleineren Verwandten sind ohnehin schon lange emsig am Werk. Das Allium zündet ein Feuerwerk und die Zierkirsche hat rosa Konfetti über alles gestreut wie einen Segen. Die ersten Rosenknospen plustern sich schon auf, ein wenig später in diesem kühlen Jahr, umso größer ist die Vorfreude. Die Stichlinge im Teich sind mit Nachwuchs beschäftigt, der Frost hat ihnen nichts anhaben können, und Seerosenblüten wird es auch geben, irgendwann später. Und dem Himmel sei Dank – im wahrsten Sinne des Wortes – hat es endlich einmal viel geregnet.

Es ist alles in bester Ordnung in Lucys Garten, so wie es sein soll in einem Frühling, ein glückliches Durcheinader aus Spontanvegetation und Gepflanztem. Ich habe vergessen, was ich im letzten Jahr gesetzt habe, und nun tauchen überall Überraschungen auf. Wie im Leben, das manchmal mit noch viel gewaltigeren Geschenken um die Ecke kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet. Vielleicht ist es der beste Frühling von allen. Ein Garten ist ein guter Ort, um sich daran zu erfeuen, darüber zu staunen und sie mit Demut anzunehmen und zu genießen.

Der Wind ist heute launisch, er hat so viel zu erzählen. Kennt Ihr das auch, dass Menschen in einem Garten unsichtbare Spuren hinterlassen? Er hat ein Gedächtnis, nicht für jeden lesbar, aber doch deutlich da. Es ist wie Dünger in der Erde. Wer einmal dort glücklich war, bleibt auf rätselhafte Art anwesend. Die Glockenblumen erzählen vielleicht von jemandem, der vor langer Zeit an ihnen vorüberging und ihr Blau mochte. Die Erdbeeren von einer, die sie am liebsten mit viel Zucker aß. Die wuchernde Rose von wem, der sie gepflanzt hat. Aber vor allem sprechen die Grashalme, die Kräuter, die Taglilien, die Hornveilchen, der ganze Einklang der freudig grünbunten Gesellschaft des Gartens, selbst die Erde von jenen, die auf geheimisvolle Weise einfach dorthingehören, frei von Zeit. Und vor allem vielleicht von einem, der gestern da war und schon öfter, und auch wieder da sein wird, den sie aber heute vermissen. Davon flüstern sie mit dem Wind und den Wolken und erzählen ihnen Geheimnisse und schöne Geschichten vom Leben mit seinen Fragen und Sehnsüchten, seinen Überraschungen und seinem Glück.

Und in der Erde wachsen die Wurzeln in die Tiefe, beflügelt von allem, was da oben im Licht so geschieht.

8 Kommentare zu „Unsichtbare Spuren

  1. Liebe Patricia,
    ich freue mich zu sehen, dass bei Dir alles in bester Ordnung ist. Bei uns auch, soweit man das als „Ordnung“ bezeichnen möchte. Ich wollte, wie jedes Jahr um diese Zeit schon zweimal in Wustrow gewesen sein. Aber das geht ja leider immer noch nicht, denn ein Tagesausflug mit fast 500 km lohnt nicht. Darum arbeite ich fleißig weiter, testen und impfen, essen und schlafen. Überstunden und das Ganze wieder von vorn. Aber in den wenigen freien Stunden beobachte ich die Natur, die Blumen im Garten meiner Eltern und bei allen Leuten, wo ich auf dem Arbeitsweg vorbei fahre. Hier am Haus haben wir nun einen „Vogelbaum“. Im EG im Nistkasten ziehen Meisen ihre KInder groß, darüber brüten Spatzen und noch weiter oben ein Taubenpaar. Daran merkt man, wie Woche um Woche vergeht und wir älter werden. Leider komme ich gerade mit dem Lesen in Deinem Buch wegen der vielen Arbeit nicht voran. Aber ich hoffe – auf den Urlaub – im August – in Wustrow.
    Ich freue mich auf Deinen nächsten Beitrag aus Deinem Garten. Schöne Pfingsten wünsche ich Dir, liebe Grüße – Katrin

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    1. Liebe Katrin, da wünsche ich Dir weiter viel Kraft. Es geht ja bald aufwärts. Schön, dass die Vögel Dir Gesellschaft leisten. Und bald wartet wieder das Meer. Liebe Grüße, Patricia

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  2. Liebe Patricia, der Mai kommt in diesem Jahr nicht als“Mozart des Kalenders“ daher, sondern mit allen erdenklichen Wetterkapriolen, die es gibt. Wer das Glück und die Zeit hat, sich darauf einlassen zu können, entdeckt unglaublich schöne Dinge. Nur langsam und nach und nach zeigen sich die Frühlingsblumen, nach jedem Regenschauer sieht die Welt wie frisch gewaschen aus, oft gekrönt von einem Regenbogen. Ich nehme das alles sehr entschleunigt wahr. Am Ende einer grünen Baumallee das satte Gelb eines Rapsfeldes gibt Hoffnung. Die brauchen wir alle. Und bitte bald wieder das Meer.
    Seit dem Genuß der Inselgartenreihe achte ich viel mehr auf die kleinen Wesen. Und, stell dir vor, überm “ Giersch-Brennessell-Feld“ taumelten Libellen. Das habe ich noch nie wahrgenommen.
    Liebe Grüße , Romy

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  3. Dankeschön, liebe ‚Lucy‘! Ein wunderschöner Text zu wunderschönen Bildern! Viel Freude weiterhin mit allem, was dort wächst und blüht und was der Wind erzählt.
    Liebe Grüße,
    Anke

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